„Emilia Galotti“

Eine nicht veröffentlichte Theaterrezension

Es war Montag und mit einem Mal war sie da, die Lust auf Theater, der Drang, wieder einmal nach langer Zeit ins Deutsche Theater zu gehen. Der Einfall kam am Frühstückstisch und just an diesem Tage spielte man „Emilia Galotti“ mit Nina Hoss. Das gab den Ausschlag. Wenn schon Theater, dann am heutigen Tag, weniger um „Emilia“ willen, hauptsächlich wegen Nina. Der Beschluss, an der Abendkasse, es war Montag, Karten zu erwerben, war schnell gefasst. Wir dachten uns ein halbvolles Theater. Lessing, ein fast 250 Jahre altes Stück, dazu Montag und die heutigen Theaterpreise – was sollte schon passieren? Immerhin fuhren wir mit reichlichem Zeitpolster.

Es hat uns trotzdem nichts genutzt. „Emilia Galotti“, es war die 100. Vorstellung, war ausverkauft. Wir hätten warten können. „Die Dame, die dort steht, ist die erste, die Tickets erhält, wenn bestellte Karten nicht abgeholt werden. Sie wären die nächsten in der Reihe. Sonst nur 2. Rang für 6,- €.“  Sie muss uns angesehen haben, dass das für uns nicht infrage kam. Die Dame hinter der sicheren, mit einer Mikrofonanlage bestückten Kartenausgabestation lächelte uns an. Schadenfroh konnte man das Lächeln nicht gerade bezeichnen, eher siegesbewusst: Wir sind ausverkauft! Aber es war beschämend, war doch in ihren Zügen der leichte Vorwurf unübersehbar, übertönt durch das feine Lächeln: „Die Zeiten, wo man sich einfach so ins Auto setzt und so mir nichts, dir nichts wie ein Studiosus eine Theateraufführung besuchen will, sind doch auch schon lange vorbei, oder?“

„Kaufen Sie doch bei mir die Karten“, sagte da eine leise Stimme aus dem Hintergrund. „Es sind gute Plätze“, ergänzte sie. Es waren vor allem teure Billetts, die eigentlich unser veranschlagtes Budget sprengten. Aber nun waren wir schon einmal hier und dazu kam die Neugierde, zu sehen, was „Emilia Galotti“ zum Kassenrenner gemacht hat. War es nur die Hoss?

„Ach, der Herr Doktor will auch seine Karten abholen“, klang es aus dem Raum hinter der Scheibe, so laut, beinahe triumphierend, dass es alle im Kassenvorraum hören mussten. „Und dazu extra aus München angereist. Wie lange waren Sie unterwegs?“ – „Professor“, kam als Antwort. „Entschuldigung, Herr Professor!“
Wir schlugen zu, zahlten die 48,00 €. Die Frau ging mit einem glücklichen Lächeln, rief einer ebenfalls wartenden anderen Dame zu: „Tut mir leid, aber ich wollte beide Karten loswerden!“ und verschwand hinaus in den Aprilregen.

„Emilia Galotti“ – wir wussten beide nicht mehr, was sich eigentlich genau dahinter verbirgt. Die Schulzeit liegt schon viele Jahre zurück. Ein Trauerspiel von Lessing, eher etwas Trockenes, hatten wir in Erinnerung. Jetzt, wo wir das Stück gesehen haben, wissen wir auch nichts Genaues über die Handlung zu berichten. Aber sie war aufregend.

Es fing alles an wie ein Ballett oder eine Pantomime und als man endlich den Schauspielern gestattete zu sprechen, taten sie dieses in einer unvorstellbaren Geschwindigkeit, mit einer geradezu Zungen brechenden Akrobatik. Nun weiß man, was einen Schauspieler von einem Durchschnittsmenschen unterscheidet, das Vermögen, Worte mit einem atemberaubenden  Tempo von sich zu geben, wohl artikuliert gesprochen zwar, aber selbst von Lessing nicht verstehbar, und der hatte doch eigentlich den Text zu dem Stück geschrieben. Wenn man doch einmal etwas verstand, hatten sich die Mimen zweifellos versprochen.
Der Altklassiker, wäre er unter den Zuschauern gewesen, hätte behauptet: „Das Stück kenne ich nicht, aber es wird interessant gespielt.“ Lessing`sche klassische Laute vernahmen wir nicht, sahen nur zwei Schauspieler, die sich mit zwei Zentimetern voneinander entfernten Gesichtern mit Furcht erregender Frequenz und hochrotem Gesicht anschrien und anfeuchteten. Wir hatten gute Plätze in den vorderen Reihen und beide standen im Gegenlicht.
 
Eine Pause gab es nicht. Diese wäre auch nicht nötig gewesen, denn den vielleicht – wer sollte das kontrollieren – Lessing`schen Text hatten die Akteure in der Hälfte der sonst üblichen Zeit heruntergespult.
Das Publikum im ausverkauften Haus saß gebannt auf seinen Plätzen. Die Zuschauer, beinahe atem- und hustenlos, waren offensichtlich, wenn man den Beifall in diese Richtung interpretieren darf, angetan von dem Stück, aber müssen sich innerlich geschworen haben: „Ich lese zu Hause nach! Jetzt genieße ich die Zungenakrobatikvorstellung.“

Im Foyer verkaufte eine Buchhandlung die Reclam-Ausgabe von „Emilia Galotti“. Man wusste, was die Zuschauer erwartete. Die wenigen Exemplare waren schnell vergriffen.

Irgendwie wurde uns an diesem Abend mit einem Male Eberhard Esches Frust gegenüber den Regisseuren verständlich. Dieses hier, an diesem Abend, war das Stück Michael Thalheimers, Lessing war quasi nur Staffage und die Sprechübungen der Schauspielerteams waren es auch. Thalheimer hat ausschließlich seine Vorstellungen von einem klassischen Stück umgesetzt, es hätte auch „Torquato Tasso“ heißen können. Er sollte es ein Trauerspiel mit seinem Namen nennen. Wobei, dass es sich um ein Trauerspiel handelt, muss einem gesagt werden, deswegen die kleinen Zettel im Vorraum der Kasse, die auch ein wenig auf Lessing hinweisen.
Ist so modernes Theater? Muss es so sein? Wenn man nach den Zuschauerreaktionen geht, ja.  
Wir gehen wieder hin. Vielleicht spielt man dann wirklich „Torquato Tasso“. Worum es darin geht, wissen wir auch nicht mehr. Wozu auch?
Und Nina Hoss? War gut, war die schauspielerische Leuchte des Abends, obwohl, verstanden haben wir sie auch nicht, aber sie hat eine schöne Stimme.

© Hanns-Eckard Sternberg 04/04


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