"Bin ich dir noch etwas schuldig?"






"Bin ich dir noch etwas schuldig?"

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Am nächsten Morgen. Sie hatten in einer kleinen Pension übernachtet, der noch ein ganzes Stück ostalgisches Flair anhaftete. Es gab ein richtiges Landfrühstück. Die Hühner, die es mit zu verantworten hatten, gackerten noch und ließen sich von ihrem Hahn verführen. Das Paar saß in einer vollgemöhlten Veranda. In der Ecke standen die Utensilien vergangener Holzkohleorgien herum, vielleicht von den Wirtsleuten selbst oder von grillwütigen Urlaubern. So ein alter, verklebter und verfetteter Rost, dem jahrelange Staekreste anhafteten, sieht wahrlich nicht appetitlich aus. Sie wechselte mit ihm die Plätze. „Selbst gemacht“, sagte die Wirtin zu der Marmelade. „Pflaumenmus?“, fragte die Lütte.

„Erdbeerkonfitüre!“ Die Wirtin schaute etwas irritiert. Er kicherte vor sich hin. „Du lächerlicher Gnom, kannst du etwa den Mus der Pflaumen von dem anderer Früchte unterscheiden, wenn alles in kleinen Töpfchen ohne Etikett vor dir steht?“ – „Klar, kann ich.“ – „Eingebildeter Affe, aber du ernährst dich ja auch hauptsächlich von Natur. Wenn du könntest, würdest du Schneckchens, Eidechsen, Würmeleins oder gar Schlangen verspeisen und Gras zum Nachtisch.“ Sie schelmte ihn von der Seite an, schmuste ganz nah an ihn heran.

„Sag, wenn ich nicht dabei wäre, würdest du? Du würdest, stimmt’s? Sag, dass du’s täten würdest und dich nur meine vornehme Herkunft davon abhält. Den ganzen Tag über Wildkräuter und Kleintiere tät sich mein Krischan einverleiben. Is doch wohr, oder? Igittigitt.“

Sie war in Hamburg zur Welt gekommen, hatte dort, wohl behütet und finanziell sorgenlos, ihre Kindheit und Jugend verbracht. Dann war sie nach Berlin verzogen. Dort hatten sie sich kennen gelernt. „Außerdem esse ich überhaupt keine Konfitüre, man weiß ja nicht, was da drin ist, die musen doch die ganze Würmchenkolonne bei ihrer industriellen Verarbeitung mit ein. Da ist doch kein Minsch, der die kleinen Tierchen aus die Früchtchens klaubt. Glaubst du das etwa?“ Er schmunzelte.

„Hier kannst du, sie essen ihre Marmelade selbst.“ – „Dat will gor nix besagen. Vielleicht sind es solche wie du, denen so ein klein wenig Fleischbeilage reinweg nix utmokt.“ – „Du könntest bei einem Anflug von Nostalgie ja mal großmütig testen, von was fürn Zeug sich dein Klein Krischan früher ernähren musste. Das gab es bei uns zu Hause morgens zu trocken Brot, mittags zu Kartoffeln und abends als Rohkostersatz.“

Sie wurde ernst. „War es wirklich so schlimm?“ Er lachte: „Natürlich nicht, aber es hat den Anschein, als würden das auch heute noch, so viele Jahre nach der Gründung der neuen Bundesländer, weniger kritische Einwohner der alten Republik noch glauben.“

Sie probierte und aß doch. Man konnte ihrem Gesicht nicht entlocken, ob es nun aus Lust und Appetit oder als Zugeständnis oder aus Solidarität zu den Menschen hier geschah. Er griente. „Lach du nur! Warte nur, meine Zeit kommt noch.“ Es mundete ihr schließlich vortrefflich, sie aß mit großem Appetit zwei der sattgelben Eier, probierte alle Marmeladen und den Honig, auf den die Herbergsleute ganz besonders stolz waren. Waren sie doch Imker und ihre Bienenwagen standen in den Wäldern der Schorfheide, dort, wo, wie sie meinten und betonten, die Natur noch in bester Ordnung war und Pestizide ein Fremdwort. „Christian, stimmt das?“ Er zuckte mit den Schultern. „Muss wohl so sein. Letztens hat man riesige Waldflächen von der Nonne kahl fressen lassen, ohne auch nur mit einer Spur von Giftstoffen einzugreifen.“

Eine Katze streichelte um ihre Beine. Der Hofhund kam und nahm beide mit einem Abschlecken ihrer Hände in die Tierfamilie des Gehöftes auf. Ein sehr zutrauliches Huhn marschierte über den Tisch. Es musste dieses schon des Öfteren gemacht haben. „Willst du weg!“, schimpfte die Alte aus dem immer etwas offen stehenden Küchenfenster.

„Junge, so ganz hygienisch pflegt das hier aber nicht unbedingt zuzugehen. Und in so was habt ihr früher Ferien und Urlaub gemacht? So so. Du, ich glaube, keine zwei Stunden hätten meine Eltern ...“ Sie schwieg. Sie wollte ihn nicht verletzen. Unter solch neckischen Gesprächen verging das Frühstück. Nur ein Außenstehender hätte vielleicht einen frustigen Unterton herausgehört, der da mit anklang. Aber Verliebte?

In ihrem Zimmer. Sie schaute auf das windschiefe Waschbecken, das mit einem verwaschenen Gilb ummalt war. Die Tropfen und Reste bei der kleinen und größeren Bodywäsche – für die ganz große gab es eine zentrale Dusche, die Vermieter und Gäste gemeinsam benutzten – hatten eine kalkigweiße Landschaft auf das umgebende Paneel gezaubert. Man konnte auch die Reste verschiedenster Superzahncremes ausmachen, die farbige Akzente gesetzt hatten, oder aber mit einem selektiven Blick über all das hinwegsehen. Sauber war es, sauber im Bereich des Machbaren, aber das windschiefe Wasserbecken lenkte zwangsläufig immer wieder den Blick auf die gilbe Fläche drumherum. Die Frau kam mit ihrem Mann. Sie ordnete ein wenig an den Handtüchern herum.

„Alles selbst gemacht, die Mauern, die Fenster eingesetzt, sogar die Klempnerarbeiten“, sagte stolz der Hausherr. Man sah es. Am schiefen Waschbecken. „Musste man ja. Es gab ja niemand, der einem das machte, wenn man keine Beziehungen hatte. Wir waren damals alle Handwerker für alle Gewerke.“ Man sah es am Waschbecken. Man sah es eigentlich überall. Die Frau begann ein Gespräch. Sie konnte nicht verstehen, dass die Gäste, die sich zu glorreichen DDR-Zeiten hier gedrängelt hatten, ausblieben.

Sie waren noch nie in Bayern oder anderen Ferienregionen der alten Bundesländer. Sie wussten nicht, wie heutzutage eine Freizeitwohnung aussieht. Für sie war die Zeit stehen geblieben. „Wir hatten immer Gäste. Sie wurden uns zugeteilt und kamen besonders aus dem Süden, aus Sachsen.“ – „Waren auch ein paar Thüringer dabei?“ – „Das kann schon sein, Sie wissen sicher nicht, wie wir das hier spöttisch gesehen haben? Südlich Königs Wusterhausen waren es Sachsen, nördlich Oranienburg die Fischköppe und zwischendrin die Hauptstadt der DDR, Sonderwirtschaftszone sozusagen. Wir haben auch davon profitiert. Und wo wollen Sie heute mit ihren Fahrrädern hin?“ „Durch die Heide nach Carinhall.“ Die Wirtsleute schauten sich beide mit einem beinahe verschwörerischen Blick an.

© Hanns-Eckard Sternberg 04.2009

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"Bin ich dir noch etwas schuldig?"

Gerhard Neumann (Frankfurt/Oder) bei amazon.de am 2. November 2009

Es ist ein bemerkenswertes Buch. Am Ende des Werkes erfahren wir, wie eine Ost-Westdeutsche Liebesgeschichte enden kann oder vielleicht auch muss, und wir erfahren auch an dieser Stelle etwas über den Ursprung des Titels. Der Satz "Bin ich dir noch etwas schuldig?" kann auch als Frage des Autors an den Leser verstanden werden. Die Antwort lautet eindeutig: nein. Der Autor bleibt dem Leser nichts schuldig". Ist der "Faden" erst gefunden, wird man immer neugieriger und liest in den ruhigen Stunden jeden Tag ein Stück weiter. In der literarischen Mischung sind, verpackt in eine Liebesgeschichte, Naturbeschreibungen, das Ost-West-Verhältnis, fast ein Reiseführer und zahlreiche Lebenserfahrungen zu finden. Alles wird dem Leser unaufdringlich nahe gebracht, und verleitet zum Nachdenken, Vergleichen und Genießen.


 

Überraschung von anon. , 19.01.2009

ich finde ihr Buch liebenswert und wichtig und kann ihnen nur wünschen, einen großen Leserkreis zu finden. Auch ihre natürliche und sinnliche Seite macht mich froh, ihr Empfinden für die Schönheit der Natur, die Schönheit des Weibes, die Wechselwirkung von Ratio und Sinnlichkeit.


 

Lesen!!! von Cornelia Bera , 15.05.2008

Christian und Caroline machen sich von Berlin aus auf die Reise. Ziel: die mecklenburgische Heimat des Mannes. Richtung Müritz erkundet das Liebespaar per Fahrrad Orte und deren Geschichten. Sehr poetisch und genau schildert der Autor Landschaft, Leute und Wetterkapriolen. Hanns-Eckard Sternberg ist gebürtiger Mecklenburger und so findet das Plattdeutsch den entsprechenden Platz in der Geschichte. Gefühlvolle Liebesszenen sorgen für mehr als eine Prise Erotik. Überraschende Begebenheiten und Begegnungen machen das Lesen spannend. Im Mittelpunkt des Buches stehen Christians Lebenserfahrungen in der DDR und den Jahren nach 1989. Caroline, jünger als er, stammt aus dem Westen Deutschlands. Da bleibt es während der Reise nicht aus, dass unterschiedliche Ansichten aufeinanderprallen. Sind es nur Missverständnisse? Ist es die angeblich unüberbrückbare "Mauer in den Köpfen"? Ich teile nicht alle Ansichten von Christian. Doch es ist eine fiktive Geschichte, gewoben aus einer Vielzahl von Biografien. Gerade das macht Sternbergs Buch so lesenswert. Seine Frühsommergeschichte zwingt mich selbst zum Nachdenken: Wie gehst du mit deinen Erinnerungen an das Leben in der DDR um? Wie hast du dich nach 1989 dem anderen Leben angepasst? Hanns-Eckard Sternberg schrieb ein sehr persönliches, ehrliches Buch, das zugleich unterhaltsam ist. Die Geschichten um Christian und Caroline verbinden Tragik und Humor gleichermaßen, so wie das Leben eben ist. © Cornelia Bera 2008.


 

Das Buch der Überraschungen! von S.Köppen , 05.01.2009

Zuerst habe ich dieses Buch gelesen, danach musste ich es unbedingt besitzen!

 

Lesenswert! von MK , 18.10.2008

Der Protagonist des Romans ist nicht mehr ganz jung zur Zeit der Wende. Der Übergang ging an ihm wie an vielen anderen nicht spurlos vorbei ¿ beruflicher Erfolg stellt sich trotz Bemühungen auf verschiedenen Ebenen nicht ein. Auch damit muss er lernen umzugehen. In dieser Situation trifft er Caroline aus Hamburg, jung lebenslustig und hübsch. Mit dieser jungen Frau erhofft er sich eine Perspektive. Beide beginnen eine Radtour durch ostdeutsche Lande und erleben eine Reise durch frühsommerlich erblühende Landschaften. Es ist zu spüren, dass Sternberg, Land und Leute liebt, beschreibt er doch kenntnisreich die Landschaft von Barnim , Uckermark und Teilen Mecklenburgs. Selbst ¿Alteingesessene¿ werden immer wieder überrascht sein, in welch entlegenen Winkeln dieser Landschaften er Verborgenes und Interessantes findet und kenntnisreich beschreibt. Die Gegend ist ja auch geschichtsträchtig: schon der Kaiser beliebte in der Schorfheide zu jagen. Die Liebe zu Land und Menschen dieser Landstriche zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch, eingebettet in eine deutsch-deutsche Liebesgeschichte, die aus der jeweiligen Perspektive Ereignisse beleuchtet, interpretiert und manchmal sogar auf gemeinsame Nenner führt.


 

Ist es wirklich Liebe? von Ino Weber , 30.07.2008

Eine starke Prise Sozial- und Kulturkritik, tiefe Gefühle, Sehnsucht. Und die große Frage nach dem Lebenssinn scheint immer hindurch. Was prägt uns, wer sind wir, welche Prioritäten sollen wir setzen? Menschliches und Allzumenschliches beim Aufeinanderprall sehr verschiedener Charaktere, noch dazu das leidige Problem unterschiedlicher Denkweisen von Mann und Frau werden vom Autor sehr fein und mit viel Gespür beobachtet. Man scheint sich zu verstehen, ja zu mögen, und redet doch meist völlig aneinander vorbei. Eine etwas schräge Liebesgeschichte mit vielschichtigen Hintergründen, mit viel Witz und einem Schuss Ironie durchaus spannend und sehr plastisch erzählt. Die ewige Frage türmt sich am Ende auf: Ist es Liebe und was wird aus ihr? Ein sehr gut lesbarer Erstlingsroman!


 

Unbedingt lesen! von M. L. Utting , 05.01.2009

Christian und Caroline, er aus dem "Osten", sie aus dem "Westen", unternehmen eine Radtour durch die mecklenburgische Natur. Es entwickelt sich eine besondere Art von Zuneigung, die man für Liebe halten könnte. Für mindestens einen von beiden ist es auch Liebe. Während die Reise voran schreitet, entwickelt sich das Verhältnis der beiden Liebenden weiter. Und diese Liebe scheint außerdem in einer geheimnisvollen Wechselbeziehung zum Naturerlebnis zu stehen. Sehr feinfühlig und auch spannend geschrieben. Wer erst mal angefangen hat, muss das Buch so schnell wie möglich zu Ende lesen, wie es bei einem guten Roman sein soll.
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"Bin ich dir noch etwas schuldig?"

"Das Scheitern der anderen" Nordkurier / 20. März 2009 als PDF öffnen
"Worte mit Musik" Eberswalder Blitz / 31.01.-01.02.2009 als PDF öffnen
"Lesung mit Hanns-Eckard Sternberg" Märkischer Sonntag / 18. 01.2009 als PDF öffnen
"Rezension" Rotary-Magazin / September 2008 als PDF öffnen

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